CD - Christoph Graupner • Ein Weihnachtsoratorium

Hörbeispiele:

Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26
Kantate « Wer da glaubet dass Jesus sei der Christ », GWV 1103/4
Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34
Kantate « Wie bald hast du gelitten », GWV 1109/14
Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53
Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46
Kantate « Gott sei uns gnädig », Coro: Jesu, ewger Hoherpriester
GWV 1109/41
Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 

Trackliste


CD 1

1.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: I. Coro: Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei kommen2:17
2.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: II. Recitativo: Erwacht, ihr schläfrige Gemüter!1:01
3.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: III. Aria: Angenehmster Tag der Gnaden3:55
4.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: IV. Recitativo: Gott lässt sein Licht, sein Heil1:01
5.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: V. Aria – Coro: Rüste dich Seele! Mit Waffen des Glaubens, stärke den Mut!3:36
6.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: VI. Recitativo: Die Welt hält zwar den Kampf vor Spott0:51
7.Kantate « Die Nacht ist vergangen », GWV 1101/22 am 1. Advent: VII. Choral: Die Welt hält zwar den Kampf1:29
8.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: I. Coro: Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe1:15
9.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: II. Recitativo: Du sichres Volk, lass deinen Spott0:42
10.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: III. Aria: Erblasst nur, große Himmelslichter2:55
11.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: IV. Recitativo: Des Richters große Majestät0:58
12.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: V. Aria: Eilt nur fort, ihr Jammertage5:51
13.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: VI. Recitativo: Mein Herz, ermüde nicht im Beten0:36
14.Kantate « Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe », GWV 1102/26 am 2. Advent: VII. Choral: « Wacht auf! » ruft uns die Stimme3:02
15.Kantate « Wer da glaubet dass Jesus sei der Christ », GWV 1103/40 am 3. Advent: I. Coro: Wer da glaubet, dass Jesus sei der Christ2:15
16.Kantate « Wer da glaubet dass Jesus sei der Christ », GWV 1103/40 am 3. Advent: II. Recitativo: Dass Jesus der Messias sei1:09
17.Kantate « Wer da glaubet dass Jesys seu der Christ », GWV 1103/40 am 3. Advent: III. Aria: Wer Jesum kennt, wankt nicht im Glauben7:40
18.Kantate « Wer da glaubet dass Jesus sei der Christ », GWV 1103/40 am 3. Advent: IV. Recitativo: Die Treue hat auch ihren Lohn0:53
19.Kantate « Wer da glaubet dass Jesus sei der Christ », GWV 1103/40 am 3. Advent: V. Aria: Mein Jesus ist mein Freund!3:00
20.Kantate « Wer da glaubet dass Jesus sei der Christ », GWV 1103/40 am 3. Advent: VI. Choral: Kein' Engel, keine Freuden2:31
21.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: I. Coro: Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen1:48
22.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: II. Recitativo: Dies ist die Stimme, die dir schallt0:45
23.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: III. Aria: O teurer Rat, mein Herz erkennt den Segen3:32
24.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: IV. Recitativo: Ja wohl, es ist ganz ungemein0:58
25.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: V. Aria: Gott ist groß in seinen Werken3:56
26.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: VI. Das große Element, das Wasser der Natur0:58
27.Kantate « Tut Busse und lasse sich ein jeglicher taufen », GWV 1104/34 am 4. Advent: VII. Choral: Lobe den Herren0:57
28.Kantate « Wie bald hast du gelitten », GWV 1109/14 am Fest der Beschneidung Christi: I. Coro: Wie bald hast du gelitten2:59
29.Kantate « Wie bald hast du gelitten », GWV 1109/14 am Fest der Beschneidung Christi: II. Coro: Lass mich dies wohl bedenken, du schönes Gotteskind3:08

CD 2

1.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: I. Coro: Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde2:19
2.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: II. Recitativo: O Mensch, erstaunst du nicht?0:46
3.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: III. Aria: Herz und Seele seind voll Wonne4:19
4.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: IV. Choral: Willkomm', o süßer Bräutigam2:25
5.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: V. Recitativo: Wie gar unendlich groß1:01
6.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: VI. Aria: Komm, mein Freund, mein Heil, mein König5:49
7.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: VII. Recitativo: Ja, ja, Du kommst zu mir0:39
8.Kantate « Jauchzet ihr Himmel, erfreue dich Erde », GWV 1105/53 am 1. Weihnachtsfesttage: VIII. Coro: Gott ist Gott und keiner mehr1:07
9.Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46 am 2. Weihnachtsfesttage: I. Accompagnato: Sie eifern um Gott, aber mit Unverstand1:01
10.Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46 am 2. Weihnachtsfesttage: II. Recitativo: Der Eifer wird gar leicht zur Sünde1:23
11.Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46 am 2. Weihnachtsfesttage: III. Aria: Die Wahrheit fördert ihre Sache5:03
12.Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46 am 2. Weihnachtsfesttage: IV. Recitativo: Weh dem, der treuer Zeugen Eifer0:51
13.Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46 am 2. Weihnachtsfesttage: V. Aria: Alles wil zu diesen Zeiten5:48
14.Kantate « Sie eifern um Gott », GWV 1106/46 am 2. Weihnachtsfesttage: VI. Choral: Ach Gott, vom Himmel sieh doch drein2:02
15.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: I. Coro: Gott sei uns gnädig und segne uns1:55
16.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: II. Accompagnato: Das alte Jahr ist hin1:18
17.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: III. Coro: Jesu, ewger Hoherpriester6:20
18.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: IV. Recitativo: Sind viele deiner Huld nicht wert0:51
19.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: V. Coro: Öffne, Jesu, deine Hände5:22
20.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: VI. Accompagnato: Lass allen Reichtum deiner Schätze1:41
21.Kantate « Gott sei uns gnädig », GWV 1109/41 am Neujahrstage: VII. Choral: Gott sei uns gnädig und barmherzig2:20
22.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: I. Choral: Merkt auf, mein Herz, und sieh dorthin0:55
23.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: II. Recitativo: bespiegle dich, du Christenschar0:58
24.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: III. Aria: Ach, lass dich sehn. Du licht der Heiden5:39
25.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: IV. Recitativo: Die Sünder, ach, erschrecken1:05
26.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: V. Aria: Jesus macht mir keinen Schrecken5:04
27.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: VII. Recitativo: Ach, werter Jesu, mein Verlangen0:49
28.Kantate « Merk auf, mein Herz », GWV 1111/44 am Epiphanias: VIII. Choral 1 da capo: Ach mein herzliebes Jesulein0:57

Inhalt


Schon zu Lebzeiten genoss Christoph Graupner (1683 - 1760), ähnlich wie seine gleichfalls renommierten Zeitgenossen Telemann, Fasch, Keiser und Heinichen allenthalben großes Ansehen. Der imposante Umfang seines Schaffens einerseits, der denjenigen Telemanns fast erreicht, Bachs vollends übertrifft, die erstaunliche Vielfalt an Formen andererseits, die Opern, Konzerte, Orchestersuiten, Kammermusik und Klavierwerke und mehr als 1400 Kantaten umfasst, belegen hinreichend die Kraft seines Schöpfergeistes. Dennoch erstaunt man ob der immerwährenden hohen Qualität dieser Werke, die dem Komponisten zu recht Hochachtung eintrugen.

In vieler Hinsicht verkörperte Graupner den Inbegriff des vollkommenen Kapellmeisters im Dienste eines absolutistischen Herrschers. Gebürtig aus Kirchberg, studierte er zunächst bei Johann Kuhnau an der Thomasschule in Leipzig, kam dann als Cembalist an die Oper in Hamburg, wo er Keiser und Mattheson kennenlernte, und wurde 1709 als besonders begabter Musiker (er war gerade 26 Jahre alt) vom musikbeflissenen Landgrafen Ernst-Ludwig von Hessen-Darmstadt (1667 - 1739) in Dienst genommen.

Graupner blieb Darmstadt bis zu seinem Tod im Jahre 1760 treu, diente unter den Landgrafen Ernst-Ludwig und Ludwig VIII. (ab 1739) zuerst als Vizekapellmeister, später als Hofkapellmeister. Trotz der finanziell schwierigen Zeiten bezog er ein ansehnliches Gehalt. Stets leistete er gründliche und intensive Arbeit, besonders nach dem Tod des Vizekapellmeisters Grünewald (1675 - 1739), mit dem er sich in die Arbeit für die Hofkirche geteilt hatte: nach Aufgabe des kurzlebigen landgräflichen Opernprojektes waren das wöchentlich jeweils ein bis zwei Kanaten für die Schlosskirche und Cembalomusik für die höfische Unterhaltung sowie Kompositionen für das Repertoire des über die Landesgrenzen hinweg berühmten Hoforchesters.

In den vielfach durch Krieg und Brand überschatteten Zeiten kommt es einem wie ein Wunder vor, dass fast das gesamte umfangreiche Schaffen dieses Meisters in der Handschrift des Komponisten erhalten blieb. Niemals nahm Graupner auswärtige Kompositionsaufträge an, noch gestattete er die Anfertigung von Kopien seiner Werke. Auch gelangten - abgesehen von wenigen Cembalosuiten und einem Choralbuch - weder zu Lebzeiten des Komponisten noch in neuerer Zeit seine Werke zum Druck. Sein testamentarisch protokollierter Wunsch, dass sämtliche Kompositionen nach seinem Tode verbrannt werden sollten, hatte nicht in die Tat umgesetzt werden können: ein 60-jähriger juristischer Streit zwischen dem Landgrafen und den Erben des Komponisten erwies sich als heilsames Moratorium; danach war das Interesse an seiner Musik längst erlahmt. So sind seine Handschriften als Zeugnis der einstigen großen Blütezeit der Hessischen Hofkapelle bewahrt worden. Der Bestand blieb dank rechtzeitiger Auslagerung von der verheerenden Verwüstung Darmstadts im 2. Weltkrieg verschont.

Über Graupner als Mensch schweigt die Überlieferung weitgehend. Die wenigen Zeilen in Matthesons Grundlage einer Ehrenpforte (1740) sind kaum aufschlussreich. Kein Bildnis, keine persönlichen Dokumente oder Zeugnisse zu seinem Charakter existieren; nur die Dokumente zu seiner Heirat, zur Geburt der Kinder, handschriftliche Bestellungen von Notenpapier u. ä. sind erhalten. Belegt ist allerdings seine heimliche Bewerbung um die durch den Tod Johann Kuhnaus 1722 vakant gewordene Stelle des Thomaskantors in Leipzig, die zwar erfolgreich verlief, die Graupner aber nicht annehmen durfte, weil der Landgraf ihn nicht vom Dienste freisprach. Letztlich jedoch brachte ihm dieser Veränderungswunsch eine Verdoppelung seines Gehaltes ein! So wurde Graupner zum bestverdienenden Kapellmeister seiner Zeit! Die Kantorstelle in Leipzig wurde schließlich Johann Sebastian Bach zugesprochen, doch erst nachdem Telemann und Graupner abgesagt hatten.


Die Kirchenmusik Graupners besteht ausschließlich aus Kantaten (nicht weniger als 1418!), komponiert zwischen 1709 und 1754 im privaten Auftrag des Landgrafen für die Schlosskirche. Oratorien waren im liturgischen Rahmen in Darmstadt nicht gefragt; daher gibt es von Graupner keine Passion oder ähnliche große Werke. In seiner Kirchenmusik begegnen wir einem fleißigen und erfahrenen Musiker, der, mit allen anspruchsvollen Kompositionsverfahren seiner Zeit bestens vertraut, schöpferisch und eigenständig arbeitet. Er war in seinem künstlerischen Handeln zugleich fleißig und treu, indem er sich dabei zuverlässig nach dem Geschmack seines Brotherrn, nach den Bedingungen des Ortes und der Hofkirche richtete. Dabei ist festzustellen, dass sich die Musik seiner Kantaten ziemlich klar und abrupt um das Jahr 1740 ändert: Der 1739 an die Regierung gekommene junge Landgraf liebte den etwas galanteren Stil. Erfahrung und Geschicklichkeit zeigen Graupner stets in der besten Thomaner-Tradition, vertraut mit den Regeln der musikalischen Rhetorik, mit den Erfordernissen bei der Übersetzung der Affekte von Text und Wort sowie ihrer religiösen Bedeutung in die Musik. Auf ihre Art stellten seine Kantaten eine würdige musikalische Exegese von Bibellesung und Predigt dar und standen künstlerisch auf der Höhe ihrer Zeit.

Die Texte seiner Kantaten wurden hauptsächlich von den Hofpoeten Johann Georg Lehms und vor allem von Johann Conrad Lichtenberg (1689 - 1751) verfasst. Lichtenberg war eine bedeutende religiöse, literarische und politische Persönlichkeit dieser frühen Epoche der Aufklärung, zugleich ein geachteter Baumeister; er verfasste (?) zwischen 1719 und 1743 mehr als 1500 Kantatendichtungen für Darmstadt, von denen Graupner (zwischen 1718 und 1754) 1208 vertonte. Seine Texte haben durchaus eine didaktische und moralisierende Note. Sie sind gekennzeichnet von dem etwas düsteren Hang nach Schuld und Buße und damit ein typischer Ausdruck dieser Zeit und dieses Ortes.

Graupners musikalischer Stil wird zu einem Teil durch musikalisch-praktische, zu einem anderen durch liturgische Bedingungen bestimmt. Der Hof hatte keinen Chor (nur gelegentlich waren mehrere Sänger vorhanden). Unter den Gesangssolisten befanden sich ein ausgezeichneter Bassist (Vizekapelmeister Grünewald) und gute Sopranistinnen. Daher sind Bass und Sopran mit vielen Arien und auch mit kompletten Solokantaten vertreten. Im späteren Werk sind Ensemblesätze (Chöre) meist kurz und eher sparsam vertreten. Dagegen ist die instrumentale Vielfalt ausgesprochen groß: Chalumeau, Flauto d'amore, Viola d'amore, Hörner, Pauken (bis vier Stück!), und das alles in überraschenden und ungewöhnlichen Kombinationen, denn die Hofkapelle beschäftigte viele hervorragende Musiker.

Die Kantaten gehören formal zur madrigalischen Kirchenkantate. Madrigalische, d.h. freie Poesie (Rezitative und Arien) hatte Erdmann Neumeister ab 1704 in die lutherisch-protestantische Kirchenmusik eingeführt und diese einige Jahre später um die traditionellen Musikvorlagen Bibeltext und Kirchenliedstrophen (Choräle) erweitert. Damit war eine höchst erfolgreiche poetische Form entstanden, die von vielen Kantatendichtern aufgegriffen wurde. Der formale Ablauf einer Kantate bestand aus sechs oder sieben Sätzen: einem Bibelzitat (Dictum, meist mit allen Sängern), einigen Rezitativen mit anschließender Arie (Sologesang) und einem Choralsatz zum Beschluss (wieder in voller Besetzung). Innerhalb dieses Rahmens waren allerdings viele Varianten/Freiheiten bei der Anordnung möglich. Im Rezitativ und in der Arie hat der Sänger eine doppelte Funktion: hier die klare Vermittlung der ewigen religiösen Wahrheiten, dort in der Arie ihre persönliche und subjektive Ausdeutung in der Reflexion. Die Choräle (bei Graupner immer mit instrumentaler Figuration, also nicht zum Mitsingen bestimmt) stellen durch ihren Rückgriff auf die bekannte Melodie und ihre galante Verarbeitung in der Begleitung die geglückte Vereinigung von Tradition und neuem Stil dar. Wenn die Kantaten formal auch kaum Abenteuerliches bieten, stellt Graupner dennoch in diesem Rahmen seine unerhörte Kreativität unter Beweis. In nahezu jeder Kantate ist etwas Überraschendes zu entdecken, sei es in der Struktur, im Inhalt oder in der Besetzung.

Durch den langen Dornröschenschlaf von Graupners Werken gibt es bis heute weder eine gründliche Untersuchung seiner Kantaten noch eine umfassende Graupner-Monographie. Die Auswahl der hier vorliegenden Weihnachtskantaten, sie mag noch so eingeschränkt oder arbiträr sein, denn es gibt von Graupner insgesamt 192 Kantaten für die Festtage vom 1. Advent bis Epiphanias, vermag den Zuhörer vielleicht zu überzeugen, dass es sich hier um große, unverwechselbare musikalische Schätze handelt, die einer angemessenen Aufmerksamkeit würdig sind. Und vielleicht eröffnen sie in der nahen Zukunft die längst fällige Wiederentdeckung von Graupners musikalischen Werken.

Betrachtet man Graupners Schaffen, begreift man, dass hier die Ausdruckskräfte einer der faszinierendsten musikalischen Persönlichkeiten des Barockzeitalters Klang geworden sind, und man kommt nicht umhin festzustellen, dass dieser produktive, höchst flexible Komponist eine breitere Kenntnis und Anerkennung verdient!

Florian Heyerick
Übersetzung: Peter Huth


Im Rahmen einer Doktorarbeit an der Musikhochschule Gent (Belgien) arbeitet Florian Heyerick an der Erfassung und Verbreitung von Graupners Werk durch das Internet, durch Konzerte, durch Aufnahmen und Notenausgaben.
www.graupner2010.org

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