Kostbarkeiten aus dem Minoritenarchiv Wien

Die Handschrift XIV 726 des Wiener Minoritenkonvents zählt zu den bedeutendsten Quellen österreichischer Barockmusik. In ihr versammeln sich detailgenaue Abschriften bekannter Werke berühmter Komponisten, wie die Violinsolosonaten aus 1681 von H.I.F.Biber, neben großzügigen Bearbeitungen bekannter und unbekannter Violinkompositionen, wie einer Rosenkranzsonate die als Musikalische Schilderung einer Türkenschlacht mit der Autorenbezeichnung Schmelzer erscheint. Es finden sich interessante Beiträge eher unbekannter Komponisten, wie Sonaten von N.Faber oder J.Voita, sowie anonyme Werke von teilweiser überragender Qualität.

"Anonymus" - Diese Programmüberschrift deutet an, dass hier Kompositionen vereinigt sind, deren Autoren in der Handschrift nicht genannt werden. War es etwa der Schreiber selbst, der diese Werke schuf oder wurde hier einfach auf die Nennung der Autoren vergessen oder handelt es sich um eine besonders gründliche Bearbeitungen von anderen Kompositionen, so dass die Nennung der ursprünglichen Schöpfer einfach nicht mehr statthaft schien?

Ein besonderes Merkmal aller im Konvolut vereinigten Sonaten ist die Forcierung des virtuosen Elements. Nicht umsonst befinden sich die violintechnisch besonders anspruchsvollen Sonaten von Biber und Walther hier versammelt.
Wer wird sich die Arbeit antun, über hundert Sonaten mit der Hand zu Papier zu bringen, wenn nicht ein Geiger, der diese Sonaten selbst musizieren konnte. Es muss ein sehr guter Violinist gewesen sein, sonst hätte er nicht gerade diese anspruchsvolle Musik notiert.

Von Schmelzer, Bertali und Biber wurde nördlich der Alpen eine Violinschule gegründet, die dem Standart der übrigen Welt in vielen Dingen weit voraus war: Man verwendete hier die hohen Lagen auf dem Griffbrett fast selbstverständlich, man experimentierte mit besonderen Bogenstrichen, man vergnügte sich im mehrstimmigen Spiel auf der Geige, man ersann Klangmalereien und man liebte besonders das schnelle Spiel, das einen artistischen Eindruck auf die Zuhörer machen konnte. Besonders hervorzuheben wäre noch das beliebte Kunstmittel, auf verstimmten Geigen zu musizieren. Aber dies ist ein gesondertes Thema, das in einem speziellen Programm behandelt werden wird.

Auch die anonymen Stücke der Sammlung bestechen durch ihre geigentechnische Brillanz.
Es finden sich hier ähnlich virtuose Spielfiguren, wie bei den Sonaten der genannten Komponisten. Nördlich der Alpen gab es eben einen technischen Standard mit einem gesicherten technischen Vokabular, das allen Autoren wohlbekannt war. Gerade das geigentechnische Element verbindet die meisten Kompositionen. Die unterschiedliche Tiefe des musikalischen Ausdrucks, die verschiedene harmonische Reichhaltigkeit, der andersgeartete kontrapunktische Reifegrad des Tonsatzes, sowie andere rein musikalische Faktoren lassen aber den Gedanken an einen gemeinsamen Schöpfer der anonymen Melodien, meiner Meinung nach, nicht zu.

Eine Sonate mit dem Titel "Die Türkenschlacht vor Wien" wird unter dem Autor Schmelzer präsentiert. Neunzig Prozent der Komposition sind aber nahezu identisch mit einer Rosenkranzsonate von H.I.F.Biber. Wie ist das möglich?
Wir wissen, dass in der Barockzeit sehr oft Kompositionen mit geringen Änderungen mehrmals verkauft wurden. Manchmal war es der Komponist selbst, der auf diesem Weg eines seiner Werke unter anderem Titel präsentierte, manchmal waren es auch Komponisten, die Werke von Kollegen als eigene Schöpfung vorstellten. Nur selten wurde der kleine Schwindel bemerkt. Noch seltener gab es negative Konsequenzen. Man findet selbst in Werken berühmter Zeitgenossen "Ausleihungen" bei Kollegen. G.F.Händel hat beispielsweise bei G. Muffat gefischt. C.A Lonati detto il gobbo ( der Bucklige) wurde ständig bemüht. Er hat erst relativ spät einige seiner Werke drucken lassen. Seine Violinsoli waren dennoch berühmt, wurden handschriftlich gerne kopiert und erfreuten sich einer weiten Verbreitung. Wen wundert es, dass man sich mehrmals bei ihm auch in ganz besonderer Weise bediente?
Wir leben heute in einer verbundenen Welt, in der räumliche Abstände fast keine Rolle mehr spielen. Früher war das anders. 200 km waren eine Distanz, die nur mit großen Anstrengungen zu bewältigen war. Die Autorenschaft eines Werkes war nur dann halbwegs geschützt, wenn es im Druck erschienen war. Musikdrucke konnte man fast überall relativ leicht erwerben. Aber auch hier wurde getrickst. Bis heute verdunkeln beispielsweise Raubdrucke das Schaffen von G.F. Händel. Nur wenige seiner Sonaten für Violine können zweifelsfrei dem berühmten Händel zugeordnet werden! Nicht besser ist das im Geigenbau. Wie viele unechte Stradivaris bevölkern seit mehreren Jahrhunderten die Erde?

Zurück zur Türkenschlacht. Es war wahrscheinlich ein Sohn des weltbekannten H.Schmelzer, der Bibers Sonate für seine Zwecke adaptierte. Er übertitelte Abschnitte mit programmatischen Bemerkungen wie "Der Türcken Belägerung der statt Wien", veränderte sonst eher wenig und komponierte noch einen achttaktigen Schluss, der dreimal wiederholt werden soll. Fertig war das neue Werk. Der Wiener Schreiber kannte dieses Material offensichtlich nur aus seiner Hand und so führte er die Sonate unter dem Titel Schmelzer. Hätte er im Laufe seines Lebens die Rosenkranzsonaten von Biber kennen gelernt, er hätte wahrscheinlich die Autorenschaft korrigiert! Die im Druck erschienenen Kompositionen wurden von ihm übrigens fast fehlerfrei und nahezu identisch mit dem Druckmaterial abgeschrieben.

Die Sonate 75 beginnt beinahe identisch mit der Sonate VI von H.I.F.Biber, die in der Sammlung ebenfalls enthalten ist. Nach dem kontrapunktisch und harmonisch eindrucksvollen Einleitungssatz,folgt in Nr. 75 allerdings ein Paßsagagli Tanz im Adagisßsimo, der die düstere Stimmung des Präludiums weiterführt und sehr subtil die Variationen aneinander reiht, ohne je den eingeschlagenen Weg zu verlassen. In Nr.6 des Biber-Druckes folgt ebenfalls ein Paßsacagli. Dieser Tanz bringt aber ein ganz andere Stimmung, verändert das Thema auch im Verlauf. Der Satz endet mit virtuosem Figurenwerk. Danach geht die Sonate weiter, allerdings in Skordatur.
Hat Biber mehrere Fassungen einer Sonate geschrieben, oder hat sich ein anderer Komponist bzw. der Schreiber des Konvoluts die Einleitung ausgeliehen und dann die Musik selbst weiterentwickelt?
Im Manuskript wird jedenfalls Biber bei der Sonate 75 nicht als Autor genannt.
Die Sonate 4 leiht sich gerade einmal das Anfangsmotiv der ersten Violinsonate des Biber-Druckes aus, geht dann aber ganz andere Wege. Hier stellt sich eine ähnliche Frage.
Rätsel geben Stücke von B. Viviani auf, deren Material Ähnlichkeit mit einigen seiner in Druck erschienenen Werke aufweisen, sich aber doch deutlich von ihnen unterscheiden. Hat der Komponist selbst die Änderungen vorgenommen? Die in der Wiener Handschrift geführten Kompositionen sind wesentlich virtuoser als die Fassungen aus den Drucken. Viviani lebte und wirkte einige Jahre seines Lebens in kaiserlichen Landen. Er war ein geachteter Geiger. Hat er sich damals angepasst und seinen Stil mit virtuosen Elementen angereichert? Vielleicht hat er bei der Drucklegung gerade auf diese Elemente verzichtet um seine Kunden aus Italien und dem restlichen Europa nicht durch allzu grosse Virtuosität abzuschrecken?
Wenn es aber der Schreiber der Sammlung war, der die Adaptionen von den gedruckten Werken durchführte, hatte er wohl Angst, dass jemand die gedruckten Stücke kennen konnte. Aus diesem Grund musste er Viviani als Autor nennen. Die gedruckte Originalversion von Viviani war dann dem Schreiber offensichtlich in violintechnischer Hinsicht zu wenig anspruchsvoll.

Bei nicht im Druck erschienenen Werken war große Vorsicht nicht nötig. Hier konnte auf die Nennung des Autors verzichtet werden. Der Schreiber könnte diese Werke ohne große Hindernisse in seinem Sinne bearbeitet haben. Das würde die Ähnlichkeit bei den spieltechnischen Figuren und den geigentechnischen Kunstmitteln erklären. Ebenso erklärt sich dadurch auch die Tatsache des sehr unterschiedlichen musikalischen Materials der anonym geführten Stücke.
Dass der Schreiber auch die eine oder andere Eigenkomposition in die Sammlung aufgenommen hat, ist möglich und wahrscheinlich.

In den anonymen Kompositionen finden wir jedenfalls wunderschöne und wirkungsvolle Violinmusik, die den hohen Standard des Geigenspiels nördlich der Alpen bezeugt!

Gunar Letzbor



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